von David Ittekkot
Feminismus und Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen, Unterstützung geflüchteter Menschen, demokratische Partizipation, Umwelt- und Klimaschutz, Vorantreiben der Digitalisierung und Kampf gegen Überwachung, Laizismus (oder zumindest ein gewisses Maß an Trennung von Religion und Staat). Diese Themen und viele weitere sind, einige mehr, andere weniger, mittlerweile Konsens progressiver politischer Kräfte. Aus gutem Grund hat sich die Sozialdemokratie in Europa und gerade in Deutschland viele dieser Ziele in den letzten 150 Jahren adaptiert und sie zu ihren eigenen gemacht. So konnten z.B. das Frauenwahlrecht, die „Legalisierung“ von Homosexualität, der Ausstieg aus der Atomkraft und vieles mehr erreicht werden, mit Unterstützung einer sich stets wandelnden Sozialdemokratie. Am Ende der Entwicklung sind wir aber hoffentlich noch lange nicht angekommen, denn es gibt noch viel zu erreichen.
Kurzum: Der Kampf um das Mehr an individuellen und kollektiven Rechten und Freiheiten in einer demokratischen Gesellschaft ist ein enorm wichtiger und die Sozialdemokratie in Europa täte gut daran, sich nicht von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien von diesem Kurs abbringen zu lassen.
Dass ein Abwenden von diesen progressiven Grundwerten die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie untergräbt, schädlich ist und in keiner Weise einen Stimmungsumschwung für die Sozialdemokratie bewirkt, lässt sich sehr gut in Österreich beobachten. Das Umschwenken der SPÖ auf einen rechten Hardliner-Kurs in der Geflüchtetensituation hat vielmehr die RechtspopulistInnen und Rechtsradikalen der FPÖ gestärkt – schließlich konnten sie die Forderungen, die sie schon seit langem vertreten, sogar aus der Opposition heraus verwirklichen.
Progressiv ist also wichtig. Aber progressiv ist nicht genug. Diese Erkenntnis ist aus meiner Sicht der Schlüssel zum Verständnis der fundamentalen Krise der Sozialdemokratie in Europa. Will die SPD (und das gilt für die anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien genauso) in Zukunft noch als so etwas wie eine linke Volkspartei weiterexistieren, muss sie sich auf eine weitere Säule stützen. Es ist die Säule, die sie ursprünglich ausmachte und es ist umso bitterer, dass diese in der Parteiführung so sehr in Vergessenheit geraten zu sein scheint, dass sie überhaupt keine Rolle mehr spielt. Der aus der ArbeiterInnenbewegung entstandene Kampf um Umverteilung und den demokratischen Sozialismus als Gesellschaftsform, die u.a. auf Kooperation, Solidarität und demokratischer Wirtschaftssteuerung basiert, wird von vielen SpitzenfunktionärInnen in der Partei nur noch als Träumerei angeblich „weltfremder linker Spinner“ wie uns Jusos angesehen, der sich nicht mehr lohnt.
Stattdessen zählen nur noch die Zahlen eines steigenden Bruttoinlandsproduktes, ohne dass sich darüber Gedanken gemacht wird, dass dieses Wachstum nur dann gesellschaftlich sinnvoll sein kann, wenn alle davon profitieren und nicht, wenn die sowieso schon Reichen noch viel reicher werden und die Armen noch kleinere Stücke vom Kuchen bekommen. Selbst „kapitalismusimmanent-linke Politik“, soweit so etwas möglich ist, findet kaum noch statt. Die SPD trägt seit Jahren eine Steuerpolitik mit, die die öffentliche Hand ausbluten lässt und die Umverteilung von unten nach oben statt umgekehrt fördert. Gleichzeitig hat sie selbst Reformen zugelassen, die die sowieso schon Schwachen noch mehr unter Druck setzt und an den Rand der Existenz bringt – mit der Konsequenz, dass auch die Mittelschicht erodiert, da Löhne und Arbeitsbedingungen an vielen Stellen zu wackeln beginnen, nicht zuletzt weil sich der Arbeitsmarkt immer mehr prekarisiert (Vollzeit-unbefristet – das gibt es immer weniger). Geradezu zynisch wirkte da Gerhard Schröder, als damaliger sozialdemokratischer Kanzler maßgeblich an diesem Prozess beteiligt, als er vor der weltweiten Wirtschaftselite prahlte, man habe in Deutschland einen der besten Niedriglohnsektoren Europas geschaffen. Noch schlimmer ist, dass auch nach ihm die Parteiführung nicht zur Besinnung kam und bis heute das neoliberale Husarenstück Agenda 2010 und die Hartz IV-Reformen für grundsätzlich richtig hält.
Gerade vom rechten Parteiflügel wird viel herumlaviert. Man schaut sich in Europa um und sagt, der Niedergang der Sozialdemokratie ist ein europäisches Phänomen und habe nichts mit neoliberaler Politik zu tun. Ersteres ist zwar richtig, verkennt aber, dass, angespornt durch das Blair-Schröder-Papier die europäische Sozialdemokratie als solche den verhängnisvollen Pfad der Stärkung des Kapitals auf Kosten der Arbeit gegangen ist und dafür bestraft wurde und wird.
Der nächste fatale, neoliberale Fehler wurde dann auf europäischer Ebene gemeinsam, aber maßgeblich getrieben auch durch deutsche SozialdemokratInnen, gemacht, indem man die Austeritäts-, also die vermeintliche Sparpolitik der schwarzen Null zum ersten Ziel der Politik machte und damit ganze Staaten nach der Finanzkrise in den Abgrund schubste: Wo ein beherzt eingreifender, gut finanziell ausgestatteter Staat von Nöten gewesen wäre, um Volkswirtschaften zu retten, wurde die eisern sparende schwäbische Hausfrau auf’s Podest gehoben, die eigentlich im Staatshaushalt nichts zu suchen gehabt hätte und die eine wirtschaftliche Erholung unmöglich machte.
Diese Fehler haben uns, auf gut deutsch gesagt, ganz tief in die Scheiße geritten. Und die Rechnung kommt jetzt umso deftiger in der Geflüchtetensituation. Während viele BundesbürgerInnen die Schnauze voll haben, dass sie statt guter Arbeit immer schlechtere (und schlechter bezahlte) Arbeit bekommen und die soziale Infrastruktur ächzt und teilweise zusammenbricht, lassen sich die europäischen PartnerInnen nach Jahren der deutschen Hegemonie nicht zu einer „europäischen Lösung“ bringen.
Vielen potenziellen SPD-WählerInnen ist es wichtig, dass die Sozialdemokratie sich für progressive Politik einsetzt. Andere dagegen juckt progressive Politik nicht die Bohne. Das mag daran liegen, dass in ihnen drin ein/e RassistIn, SexistIn, HomophobeR oder sonst etwas schlummert oder aber daran, dass es sie tatsächlich nicht interessiert. Wie dem auch sei, wir sollten uns weiterhin für diese Politik einsetzen und versuchen, auch jene von dieser Politik zu überzeugen.
Wenn wir diesen Menschen aber ein wirkliches Angebot machen wollen, müssen wir gleichzeitig auch für unsere Grundwerte eintreten. Wir müssen linke Politik im Sinne einer sozialdemokratischen Umverteilungspolitik machen, die durch öffentliche Investitionen die soziale Daseinsvorsorge qualitativ und quantitativ hochwertig gewährleistet und auf das Wirtschafts- und Arbeitsmarktgeschehen Einfluss nimmt. Zugunsten derjenigen, für die wir verdammt noch mal da sind: Nicht für das Kapital, sondern für die Arbeit. Nicht für die Reichen, sondern für die, die wenig haben. Es muss wieder Umverteilung von oben nach unten geben und WIR müssen diejenigen sein, die diese umsetzen.
Progressive Politik ist wichtig. Progressive Politik ist aber nicht genug. Wir haben im Bereich demokratischer Sozialismus einiges aufzuholen. Wir müssen uns auf beide Säulen stützen – ansonsten wird die SPD ein, wenn auch großer, Teil der Geschichte oder zumindest eine marginalisierte Splitterpartei werden.