Von Alexander Weisenbach
Es wird dunkel in Deutschland. Dunkelbraun um genau zu sein. Besonders dunkel ist es derzeit jeden Montag in Dresden, wenngleich die Gegenproteste immer wieder Licht reinbringen. Da demonstrieren jeden Montag Menschen im Namen von PEGIDA und lassen Angst- und Hassreden auf sich wirken. Die Reden beinhalten Worte wie Freiheit, Grundwerte, Deutschtum, Geschichte, Tradition. Sie enthalten aber auch abfällige Schmähungen gegenüber Fremde, Ausländer und sind zutiefst rassistisch und pauschal. Einige Menschen fordern ganz unverhohlen die Köpfe von Kanzlerin und Vizekanzler oder beklatschen jemanden, der es bedauert, dass die Konzentrationslager nicht mehr in Betrieb sind. Wohlgemerkt: Wir schreiben das Jahr 2015, gut 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs.
Seit dem wurde Deutschland wieder aufgebaut, gespalten und wiedervereint. Zudem haben sich innerhalb dieser Zeit auch Europa und die Welt verändert. Die Hymne Europas und die Einheit verkörpern sich heute vor allem in der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven, der Ode An die Freude geschrieben von Friedrich Schiller. Dort heißt es: „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Das ist im Kern, was Europa heute den Menschen verspricht. Ob Europa dieses Versprechen hält, hängt auch von uns ab.
Die Globalisierung ist ein nicht aufzuhaltender Prozess, an dem man teilnehmen oder, wie es die „Demokratische Volksrepublik Nordkorea“ seit Jahren versucht, von dem man sich abschotten kann. Es gibt in diesem Zusammenhang keine Alternative. Die Globalisierung soll im Idealfall die Menschen zueinander bringen und die Menschheit soll dabei lernen sich zu akzeptieren und respektieren. Sie ist die logische Konsequenz der universalen Menschenrechte. Sie ist Auftrag und Ergebnis zugleich. In Anbetracht dessen, mit welcher Überheblichkeit auch gereifte Demokratien, mit Anspruch auf Wahrung der Menschenrechte, in Länder einmarschieren und Herrschaftsstrukturen destabilisieren, liegt noch ein langer und schwieriger Weg vor uns. Ein Weg, den wir trotzdem gehen sollten.
Aber die Dunkelheit, die PEGIDA-Anhänger und Rechtsradikale über das „Abendland“, verbreiten geht uns viel mehr an. Diese Menschen, die dort montags demonstrieren, kapitulieren vor der Überzeugung, dass Menschenrechte für alle gültig sind. Sie nehmen sich das Recht heraus, Menschen nach ihrer Hautfarbe, Ihrer Nationalität, nach Ihrer Religion oder politischen Überzeugung auszugrenzen und anzufeinden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Reden und Ihr Verhalten zum Teil auch über das hinausgehen was ein Rechtsstaat erlaubt. Sie bewegen sich an der Grenze, weil Sie diesen Rechtsstaat nicht respektieren und weil Sie eigentlich Selbstjustiz betreiben wollen. Denn sie wollen, dass Gesetze andere maßregeln, und für sie nicht gelten sollen. Das steht dem Ziel, die universalen Menschenrechte zu etablieren, total entgegen. So ist er, der braune Mob: Selektiv.
Die „besorgten Menschen in Dresden“ folgen genau diesem „Demokratieverständnis“ und nehmen eine Verrohung der Debatten billigend in Kauf. Sie sehen sich sogar als Freiheitskämpfer, motiviert und getrieben durch Ihre Angst in dieser multikulturellen und globalisierten Gesellschaft den Anschluß zu verlieren. Sie alle haben eins gemein: Sie haben neben der Perspektive im System etwas verloren, dass wir in der Sozialdemokratie mit dem Grundwert der Solidarität verbinden, die Menschlichkeit.
Die Menschlichkeit ist ein Grundwert, der nicht überfordert werden kann. Nur Menschen können Überforderung empfinden. Der Grundwert der Menschlichkeit jedoch bleibt stets bestehen. Mehr Menschen erzeugen zwar Kosten für das Sozialsystem, aber mehr Menschen können sich auch mehr Aufgaben teilen. Mehr Menschen bergen auch die Möglichkeit, mehr auszutauschen und mehr Vielfalt zu erreichen. Mehr Menschen schaffen mehr Ideen. Mehr Menschen verbinden uns stärker mit der Welt. Und letztlich können mehr Menschen mehr schultern. Wir reden derzeit über eine Zuwanderung von ca. 1 Millionen Menschen. Selbst wenn es mehr werden, kann eine Gesellschaft mit 80 Millionen Menschen sich auch die Integration dieser Menschen zur Aufgabe nehmen und diese bewältigen. Es ist zumutbar!
Aber diese erst am Anfang stehende Herausforderung mit der Zuwanderung von Flüchtlingen zeigt uns auch, wie systematisch wir hierzulande unsere Menschlichkeit ökonomisiert haben. In Anbetracht der möglichen Armut und des sozialen Abstiegs wird Solidarität scheinbar zum Luxus. Die Menschen haben vergessen, dass Solidarität genau das ist, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Wie sehr genießt jeder diesen Moment, wenn uns geholfen wird, wenn Menschen uns unterstützen, wenn jemand für uns da ist. Viele empfinden dann vor allem die Wonne der Unbezahlbarkeit menschlicher Solidarität. Genau darum geht es.
Die Argumentation vor dem Zweiten Weltkrieg war nicht anders. Auch damals wurde angesichts der real wachsenden Angst vor der Zukunft (Weltwirtschaftskrise), die drohende Verarmung als Mittel zum Angriff auf die Demokratie genutzt. Ein 25-Punkte Programm der NSDAP machte besonders oft die Runde. Es war die Einleitung der deutschen Schande. Es verkörpert diametral das, was wir in den letzten 70 Jahren aufgebaut haben und für was wir heute als Gesellschaft stehen. Habt Ihr schon vergessen, wo uns das hinführt? Lest selbst und erkennt die Parallelen zu PEGIDA (Facebook-Seite). Erkennt die Parallelen zur AfD und zu den Aussagen von Horst Seehofer.
Die Flüchtlingskrise ist nicht nur die der Fliehenden vor Hunger, vor Perspektivlosigkeit, vor Sippenhaft, vor politischer Verfolgung, vor Krieg oder vor Klimawandel. Diese Krise findet auch in unseren Köpfen statt, denn scheinbar hat ein nicht geringer Teil dieser Gesellschaft die Menschlichkeit verloren. Dabei sind die „Argumente“, die immer stärker in der Mitte der Gesellschaft Gehör finden, Argumente der Frage nach der Wirtschaftlichkeit von Flüchtlingen und die Angst vor dem Kollaps der eigenen Infrastrukturen. „Wenn alle Lehrer Deutsch lehren müssen, wer ist für die Bildung meiner Kinder da? Werden die überhaupt noch gefördert im Unterricht?“ „Wenn Krankenhäuser sich um die kranken Flüchtlinge kümmern, was passiert mit der Gewährleistung unserer Gesundheit?“ Andere sehen ganz unverhohlen die eigenen Arbeitsplätze oder Ihre soziale Absicherung in Gefahr. In den Ängsten sind dem Egoismus keine Grenzen gesetzt. Dieses Ergebnis findet sich auch zum Teil in dem Asylbeschleunigungsgesetz wieder.
Es wird in den Medien, sogar in den Debatten und in den politischen Gipfelsitzungen in ganz Europa die Frage gestellt: Was kosten uns diese Flüchtlinge? Regelmäßig schmeißen Sie Zahlen in den Raum, zitieren Wissenschaftler die Prognosen abgeben und versuchen den Mehrwert und die wirtschaftliche Dimension der „Krise“ einzuordnen. Ein gern zitierter Ökonom aus München, die Koryphäe Hans-Werner Sinn, hat sich sogar für eine Herabsetzung des Mindestlohns bei arbeitenden Flüchtlingen ausgesprochen. Es ist der technokratische Instinkt, der uns seit dem Mauerfall systematisch von Neoliberalen eingeimpft wurde, der nach diesen Antworten lechzt. Irgendwann wird jemand „90%“ sagen, und diese Gesellschaft wird sich ganz im Stile des Romans 1984 von George Orwell auf dem Weg machen und diese Zahl irgendwie planbar machen und als Ziel formulieren, ohne zu hinterfragen, was diese Zahl „90%“ für soziale Auswirkungen hat. Nichts anderes ist im Rahmen der Eurokrise mit der Diskussion um nachhaltige Schuldenquoten passiert. Nichts anderes hat uns zur „schwarzen Null“ bewogen. Wo ist die Moral, die Vernunft, der Verstand?
Ich frage mich: Wann halten wir inne? Wann begreifen wir, daß unsere Menschlichkeit nicht mit Geld oder mit einem Masterplan aufzuwiegen ist?
Wir als Zivilgesellschaft sind nun gefordert, uns zu entscheiden: Wie wollen wir abwägen? Für den Grundwert der Menschlichkeit oder für den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Es gibt in dieser Frage keine Mitte. Derjenige, der es vernünftig findet, dass bei einer Million Menschen Zuwanderung die Grenzen geschlossen werden sollten, hat für alle anderen die danach Zuflucht suchen und vertrieben werden eine Mitverantwortung. Vor allem hat er aber auch nicht verstanden, daß diese Menschen auf der Flucht sind, und nicht aus Opportunismus hierherkommen. Und angesichts der Mobilität, die uns die Globalisierung abverlangt und jeden jungen Menschen mit Umzügen konfrontiert, darf es uns sowieso nicht überraschen, dass Menschen hier leben wollen, wenn Sie wirtschaftlich in anderen Ländern nicht mehr über die Runden kommen. Wir würden es auch nicht anders machen. Wenn wir nicht für diesen Grundwert der Solidarität als Gesellschaft stehen, was für eine Gesellschaft wollen wir dann sein?
Die Suche nach Effizienz und die konsequente Haltung, die Debatte über die Einkommensungleichheit zu vertuschen oder unter den Teppich zu kehren rächt sich spätestens jetzt, denn die Belastbarkeit der Menschen hängt auch mit Ihren Lebensbedingungen zusammen. Wir stehen nun vor einem Staat, der so schnell nicht fähig sein wird, diese Krise alleine mit jenen Werten zu meistern, die diese Republik aufgebaut haben. Er wird nicht fähig sein, es mit seinen derzeitigen Instrumenten und Institutionen alleine zu lösen. Die schwarze Null muß daher auch spätestens jetzt überdacht werden, immerhin stehen wir einer humanitären Katastrophe gegenüber. Es darf hier nicht in Renditen gedacht, sondern es muss dem Grundwert der Solidarität Rechnung getragen werden.
Da die Politik in dieser Frage beratungsresistent erscheint bzw. droht, im Zuge der Verunsicherung zu zaghaft zu agieren, muss es die Zivilgesellschaft richten, damit diese Gesellschaft nicht auseinander bricht. Übrigens: Diese Zögerlichkeit nennen die Briten und Amerikaner „German Angst“. Also haben wir es nicht nur mit der Angst der PEGIDA-Anhänger, sondern auch mit Angst vor dem politischen Versagen zu tun. Der Mut der Zivilgesellschaft kann die Politik wieder auf das Wesentliche besinnen, und Sie dabei unterstützen die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Daher bist Du jetzt gefragt. Du musst jetzt nachdenken. Du mußt Dich fragen, ob Du etwas für Flüchtlinge leistest, ob Du genug gibst oder nicht vielleicht mehr geben kannst. Du mußt überlegen ob Du einen Teil Deiner Zeit nicht auch den Zugewanderten widmen kannst, um Sie zu integrieren. Du musst überlegen, ob Du Dein Wohnzimmer nicht wirklich provisorisch teilen willst, oder vielleicht Deine Wohnung mit jemand teilen kannst. Du mußt Dich fragen ob Du vielleicht statt eines Biers zuviel 5 Euro mehr in die Spendentöpfe für Winterkleidung ausgibst. Du mußt Dich fragen, ob es richtig ist, jene Menschen in Ihr Land zurück zuschicken, die bereit sind, aus Verzweiflung alles aufzugeben um an einem friedlicheren Ort neu anzufangen. Du mußt Dir überlegen, ob Du Deinen Nachbarn, die jetzt eben neben Flüchtlingen leben werden Unterstützung bei dieser Aufgabe anbietest und Sie begleitest und Ihnen die Angst nimmst. Du musst mutiger sein. Du mußt vor allem andere daran erinnern, zu was Hetze geführt hat.
Es reicht nicht mehr, dass Du der Politik etwas zurufst und mit Erwartungen dann hinter Deinem Monitor verschwindest. Es ist ab sofort auch Deine Verantwortung. Und ohne Dich wird die Situation nicht unbedingt besser. Es geht jetzt ums Handeln der Zivilgesellschaft. Wir brauchen mehr Ehrenamtliche und Freiwillige. Wir brauchen eine Bewegung der Willigen, und einen Widerstand gegen PEGIDA. Einen Widerstand derjenigen, die der Ökonomisierung von Grundwerten trotzen und bereit sind, den Grundwert der Solidarität zu leben.
Wenn Du nicht handelst, wer dann?