Das Tarifeinheitsgesetz – SPD stellt sich gegen Gewerkschaften und Arbeitnehmer

Geschrieben von Steffen Niehaus

Wieder ein Gesetzentwurf, den die SPD-Spitze unreflektiert abnickt. Ungeachtet jeder Warnung undExpertenmeinung peitschen die Genossinnen und Genossen in Berlin das Tarifeinheitsgesetz durchdas  Gesetzgebungsverfahren.  Gebetsmühlenartig  wiederholt  Andrea  Nahles,  der  Gesetzentwurfgreife nicht in das Streikrecht ein. Auf kritische Stimmen wird gar nicht erst eingegangen. Auf den ersten Blick muss man Nahles Recht geben – formuliert der Gesetzesentwurf im geplanten §4a Tarifvertragsgesetz (TVG) doch gerade keine Beschneidung des Streikrechts, im Gegensatz zu demgemeinsamen Entwurf von BDA und DGB.

„§ 4a Tarifkollision (1)  Zur  Sicherung  der  Schutzfunktion,  Verteilungsfunktion,  Befriedungsfunktion  sowieOrdnungsfunktion  von  Rechtsnormen  des  Tarifvertrags  werden  Tarifkollisionen  im  Betriebvermieden. (2)  Der  Arbeitgeber  kann nach §  3  an  mehrere Tarifverträge  unterschiedlicher  Gewerkschaftengebunden sein. Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedenerGewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormendes  Tarifvertrags  derjenigen  Gewerkschaft anwendbar,  die  zum  Zeitpunkt  des  Abschlusses  deszuletzt  abgeschlossenen  kollidierenden  Tarifvertrags  im  Betrieb  die  meisten  in  einemArbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späterenZeitpunkt, ist dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. Als Betriebe gelten auch ein Betriebnach § 1 Absatz 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarifvertrag nach § 3Absatz 1 Nummer 1 bis 3 des Betriebsverfassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, diessteht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn dieBetriebe  von  Tarifvertragsparteien  unterschiedlichen  Wirtschaftszweigen  oder  derenWertschöpfungsketten zugeordnet worden sind. (3) ….

Auf einen zweiten Blick entpuppt sich der § 4a TVG jedoch als ein „Wolf im Schafspelz“.

Dies hat viele Gründe, von denen ich einige aufgreifen möchte:

  • Nach heutiger Rechtsprechung, ist ein Arbeitskampf (z.B. Streik) nur dann zulässig, wenn er auf ein tariflich regelbares Ziel gerichtet ist. Gestreikt werden darf also nur für Ziele, die auch in einen wirksamen Tarifvertrag Eingang finden. Nach § 4a Absatz 2 Satz 2 TVG wird der Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft aber durch den der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt. Ein Streik, der einen im Ergebnis nicht anwendbaren Tarifvertrag hervorbringt, könnte also nach heutiger Rechtsprechung untersagt werden. Dies ist jedenfalls bei klaren Mehrheitsverhältnissen zu fürchten.

 

  • Es besteht die Gefahr, dass die Streikbereitschaft der Mitglieder nachlässt und die Gewerkschaften somit nachhaltig schwächt. Motiviert werden Mitglieder jedenfalls nicht, wenn sie bereits vor dem Streikaufruf wissen, dass ihr Tarifvertrag verdrängt wird.

 

  • Die Mehrheitslösung greift zwar erst, wenn die konkurrierenden Gewerkschaften sich nicht einigen können. Der Entwurf suggeriert also, den Gewerkschaften Autonomie zu belassen und nur subsidiär einzugreifen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Eine Mehrheitsgewerkschaft kann sich in Sicherheit wiegen und muss keine Verhandlungsbereitschaft zeigen. Sie kann ihre Interessen rücksichtslos verfolgen, ohne sich dabei einen Kompromiss abnötigen zu lassen. Die Minderheitsgewerkschaften bleiben hingegen auf der Strecke. Das Gesetz verweist sie auf das Recht zur Nachzeichnung. Dieses Recht ist nicht mehr, als die Bedingungen zu schlucken, die die Mehrheitsgewerkschaft ausgehandelt hat. Ob diese auch die Interessen der Mitglieder von Minderheitsgewerkschaften berücksichtigen, darf bezweifelt werden. Den Mitgliedern der Minderheitsgewerkschaft wird so jeder Anreiz entzogen, weiterhin in dieser als Mitglied zu wirken.

 

  • Betroffen sind aber nicht nur Minderheitsgewerkschaften, sondern auch Gewerkschaften im Gründungsstadium. Denn diese sind in der Regel im Anfangsstadium nicht mitgliederstark.

 

  • Auch der Bezugspunkt, den das Tarifeinheitsgesetz für die Mehrheitsermittlung wählt, ist problematisch. Angeknüpft wird an den Betrieb. Der Betriebsbegriff wird im Tarifeinheitsgesetz nicht definiert. Vielmehr wird die in der Rechtsprechung bewährte Betriebsdefinition des Betriebsverfassungsgesetzes gewählt. Der Betriebsbegriff ist beliebig dehnbar. Er steht maßgeblich zur Disposition des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber kann den Betrieb also nach Belieben zuschneiden und neue Mehrheiten generieren.

 

  • Bei knappen Mehrheiten und geringem Organisationsgrad im Betrieb, genügen bereits geringe Wanderungsbewegungen der Arbeitnehmer zwischen den konkurrierenden Gewerkschaften, um eine vormals Minderheits- zu einer Mehrheitsgewerkschaft aufzuwerten. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Arbeitgeber oder diesem nahestehenden Personen Einfluss auf Arbeitnehmer ausüben, die Gewerkschaft zu wechseln. Auch könnte in dem hypothetischen Fall, dass die dem Arbeitgeber genehmere Gewerkschaft nur knapp den Rang der Mehrheitsgewerkschaft verfehlt, eine Mehrheit ohne Betriebszuschnitt dadurch generiert werden, dass der Arbeitgeber der pflegeleichten Gewerkschaft günstigere Bedingungen in Tarifverhandlungen in Aussicht stellt als der konkurrierenden Gewerkschaft. Damit könnte der Arbeitgeber Wanderungsbewegungen von Arbeitnehmern hin zur ersteren Gewerkschaft bezwecken, die folglich den Status „Mehrheitsgewerkschaft“ erhielte. Dies brächte die Gewerkschaften in eine starke Abhängigkeit zum Arbeitgeber. Gerade aber die Unabhängigkeit von der Arbeitgeberseite macht eine Koalition und somit eine Gewerkschaft aus. Das Tarifeinheitsgesetz könnte den Gewerkschaften also ihre Unabhängigkeit vom Arbeitgeber rauben.

 

  • Der Arbeitgeber könnte sich auf diese Weise eine pflegeleichte Hausgewerkschaft halten. Die Gewerkschaften müssten sich dem Arbeitgeber anbiedern, um diesem nicht zu missfallen. Das betriebsbezogene Mehrheitsprinzip des geplanten Tarifeinheitsgesetzes schafft also einen scharfen Wettbewerbsdruck zwischen den konkurrierenden Gewerkschaften und gibt dem Arbeitgeber durch den verengten Bezugspunkt „Betrieb“ das Mittel in die Hand, darüber zu entscheiden, wer in diesem Wettbewerb besteht und wer nicht. Es besteht die Gefahr, dass die Gewerkschaften in die Hände des Arbeitgebers getrieben werden. Ein Unterbietungswettbewerb dem Arbeitgeber gegenüber könnte eintreten. Jede Gewerkschaft wird versuchen, sich der Gegenseite anzubiedern, was sie in weitestgehende Abhängigkeit zu dieser brächte.

 

  • Der neue § 4a TVG bietet Gewerkschaften zudem die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Arbeitgeber den Betriebszuschnitt festzulegen (§ 4a Abs. 2 S. 2 TVG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG). Hier besteht die Gefahr, dass die Mehrheitsverhältnisse zementiert werden. Mehrheitsgewerkschaft und Arbeitgeber legen über § 3 BetrVG die Betriebsgrenzen so fest, dass die Mehrheitsverhältnisse klar bleiben. Der tarifvertraglich festgelegte Betriebsbegriff ist dann der Bezugspunkt für die weitere Mehrheitsermittlung, die wiederum nur den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft zur Anwendung bringt. Zusammengefasst: Die Mehrheitsgewerkschaft schneidet den Betrieb gemeinsam mit dem Arbeitgeber so zu, dass sie auch in Zukunft bei weiteren Tarifvertragsverhandlungen, die Mehrheitsgewerkschaft bleibt.

 

  • Die Mehrheitsermittlung wirft weitere Probleme auf. So führt das Unternehmen Deutsche Bahn ca. 300 Betriebe. In jedem dieser Betriebe können unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse herrschen, die zudem dynamisch sind. Bei Tarifkollisionen müssen die Mehrheitsverhältnisse allerdings rechtssicher und klar feststellbar sein. Dies erscheint aber gerade bei knappen Mehrheitsverhältnissen problematisch. Wie bereits erwähnt können Mehrheiten wechseln, der Beweis der genauen Mitgliederzahl scheitern, der Betrieb wird neu zugeschnitten oder es unterlaufen Auszählfehler. Auch besteht die Gefahr, dass das gerichtliche Urteil unter dem Vorbehalt der Disposition des Arbeitgebers steht. Denn dieser ist nicht daran gehindert, nachträglich mittels Betriebszuschnitt die Mehrheitsverhältnisse neu zu ordnen, was neues Klärungsbedürfnis auslösen wird.

 

  • Das Heranziehen des betriebsbezogenen Mehrheitsprinzips wirkt sich zudem auf den interkoalitinären Wettbewerb aus. Wettbewerb zwischen den Koalitionen findet auch unter dem Grundsatz der Tarifpluralität statt und ist im Grunde weder schädlich noch unerwünscht. Koalitionspluralismus und Gewerkschaftskonkurrenz sind vielmehr im Grundgesetz angelegt. Unter dem Mehrheitsprinzip wird ein Tarifvertrag allerdings nur dann noch zur Anwendung gelangen, wenn eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft die relative Mehrheit innehat. Der unterlegenen Gewerkschaft wird nur ein Nachzeichnungsrecht zuerkannt. Mit dem Verlust der Möglichkeit wirksame und anwendbare Tarifverträge abzuschließen, verlieren die unterlegenen Gewerkschaften ein wesentliches Gestaltungsmittel. Damit zusammenhängend wird auch der Mitgliederbestand einer Minderheitsgewerkschaft, die ihren Mitgliedern nur noch Nachzeichnungsoptionen versprechen können wird, abschmelzen. Dies zwingt die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften in einen aggressiven Existenzkampf mit den konkurrierenden Gewerkschaften um Mitglieder. Exemplarisch hierfür steht der Tarifkonflikt zwischen Deutscher Bahn und GdL um neue Berufsgruppen. Vor diesem Hintergrund wurde § 4a Absatz 2 Satz 2 TVG konzipiert. Gerade dieser Konflikt sollte entschärft werden, wie aus Absatz 1 und der darin angestrebten Befriedungsfunktion hervorgeht. Das Beispiel aber zeigt, dass das Gesetz diesen Konflikt durch das Mehrheitsprinzip wohl kaum entspannen können wird. Vielmehr sind Berufsgruppengewerkschaften auf eine expansive Tarifpolitik angewiesen, was den interkoalitionären Wettbewerb mittelfristig eher entfachen statt abmildern wird. Die Ausweitung von Tarifzuständigkeiten wird provoziert.

Dies war nur ein Ausschnitt der Gründe, die den Bestand des Tarifeinheitsgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht glücklicherweise schmälern werden. Es ist traurig, dass sich wieder einmal das BVerfG zum Hüter der Grundrechte aufschwingen muss.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert