Ein persönlicher Blick auf ein zerstörerisches System
Kurz vorab zu mir: Ich heiße Selin, bin 20 Jahre jung und studiere seit Oktober 2018 in meiner neuen Heimatstadt Bremen Integrierte Europastudien. Ursprünglich komme ich aus Bonn. Mit diesem Artikel versuche ich euch näher zu bringen, was überhaupt nicht funktioniert in der ach so schönen Welt der Arbeitslosen, die den ganzen Tag auf der Couch verbringen und vom fleißigen Steuerzahler durchgefüttert werden.
„Hartz IV und der Tag gehört dir?“– von wegen! Man sollte lieber „Hartz IV, der Tag gehört dir!“ draus machen. Warum darf ich mein hart erarbeitetes Geld nicht behalten? – Eine Frage, die mich über Jahre hinweg begleitet hat.
Seit der Umsetzung der Hartz-Reformen, 2004, liegt es offen auf der Hand, dass an eine Gruppe nicht gedacht wurde: Die Kinder innerhalb der sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Diesem Konstrukt liegt die politische Entscheidung zu Grunde, dass jene, welche besondere persönliche oder verwandtschaftliche Beziehungen zueinander haben und die in einem gemeinsamen Haushalt leben, sich in Notlagen gegenseitig materiell unterstützen und ihren Lebensbedarf gemeinsam decken sollten.
Doch was bedeutet diese schöne Vorstellung für die Betroffenen?
Einer Familie mit zwei Ehepartner*innen und zwei Kindern steht ein Regelsatz von ungefähr 1.380 € im Monat zur Verfügung. Dass diese Summe nicht annähernd reicht, um einen angemessenen Lebensstil zu führen, ist nicht unbekannt. Vielen Eltern ist es in jener Lage oftmals nicht möglich, neben grundlegenden Kosten wie Miete, Lebensmitteln und weiteren laufenden Kosten zusätzliche Bedürfnisse und Wünsche der Kinder zu erfüllen, zu oft fehlt es am nötigen Geld.
Ausgehend davon ergreifen Kinder und Jugendliche häufig die Initiative und streben es an, ihr eigenes Geld zu verdienen. Eigentlich dürfen in Deutschland Kinder bis zu 7664 € im Jahr verdienen, doch gilt dies nicht für Kinder aus einer Bedarfsgemeinschaft, denn diese dürfen nur maximal 100 € pro Monat verdienen. Alles darüber hinaus wird bis zu 80 % bei den Leistungen der Bedarfsgemeinschaft gekürzt. Sollte es dazu kommen, so ist man dazu verpflichtet, die überschrittene Summe zurückzuzahlen. Wird das Arbeitnehmer*innenverhältnis der Kinder von den Eltern selbst nicht beim Amt gemeldet, kann dies sogar zu strafrechtlichen Konsequenzen führen.
Das alles mag sich jetzt zwar ziemlich trocken anhören, aber geben wir dem ganzen mal eine etwas persönlichere Note, damit man überhaupt nachvollziehen kann, wie derartige Regelungen das Leben massiv beeinflussen können.
An dieser Stelle muss ich an meine erste bewusste „Begegnung“ mit dem Wörtchen Hartz IV denken. Das war damals in der neunten Klasse auf dem Gymnasium, alle freuten sich auf die anstehende Skifahrt nach Südtirol, nur nicht meine Eltern, als sie die 490 € Fahrtkosten für eine Woche Spaß im Schnee sahen.
Kinder aus einer Bedarfsgemeinschaft wissen an dieser Stelle exakt, welches mulmige Gefühl einen quält, wenn man den Eltern einen Brief aus der Schule überreichen muss, in dem nach Geld gefordert wird.
Wenn es um Kosten geht, die aufgrund schulischer Maßnahmen entstehen, werden diese (meistens) vom Amt übernommen – immerhin.
Das mag zwar jetzt schön und gut klingen, ist aber leider auch ein einziger Akt der Demütigung. Walk-of-Shame-mäßig muss man durch die Klasse zum*zur Lehrer*in und diesem*dieser gefühlt seinen Lebensumstand offenbaren und den Mitschüler*innen gleich mit. Privates bleibt da also nicht wirklich privat. Die ganze Tortur musste ich einige Male durchmachen; neben Klassenfahrten gab es natürlich auch noch andere Gebühren, die gezahlt werden mussten, mal waren es Bücher, mal ein Taschenrechner für schlappe 120 €, dann musste schon wieder das Kopiergeld bezahlt werden und vieles mehr. So ein Kind im Schulalter kostet eine ganze Menge, zumindest für einige in unserer Gesellschaft.
Natürlich gibt es außerhalb der Schule auch noch ein Leben für Kinder, aber erschütternd muss man feststellen, dass es für Kino, Freibad, Eis-Essen mit Freunden, ein neues Fahrrad oder vielleicht auch ein Instrument kein Antragsformular gibt.
Als ich alt genug wurde, habe ich beschlossen, dass sich etwas ändern muss. Gequält von den Gedanken, dass ich eine finanzielle Last für meine Eltern sei, suchte ich mir einen Aushilfsjob. Ich fing an in einem Hotel zu kellnern für gute 9 € die Stunde, zwei bis drei Tage die Woche. Ich fühlte mich endlich freier, konnte mir auf einmal vieles leisten, ich fing an, Arbeit mit Freude gleichzusetzen. Bis es zu dem Tag kam, wo mir die Freude zur Plage wurde. Ein Brief lag auf dem Tisch, der Blick meiner Mutter lässt sich mit dem Wörtchen Verzweiflung ziemlich gut beschreiben. Das was vor uns lag, würde man, denke ich, als Hiobsbotschaft bezeichnen.
Meine Mutter wusste nicht, dass sie verpflichtet war, meinen Mini-Job beim Amt zu melden. Das Resultat: Eine Anzeige wegen Betrug und 1400€, die ich zu viel verdient hatte und nun an das Amt zurückgezahlt werden mussten. Außerdem wurden wir ausführlich darüber informiert, dass ich wirklich nur 120 € maximal im Monat verdienen durfte.
Es folgte eine harte Zeit, meine vermeintlich Befreiung aus der „Armut“ wurde mir zum Verhängnis. Es schien unmöglich, diese enorme Summe zu begleichen, aber was anderes blieb uns ja nicht übrig. Also musste ich erst einmal meinem Arbeitgeber erklären, weshalb ich nur noch drei Stunden die Woche arbeiten kommen durfte. Dieser war natürlich nicht davon begeistert und ich musste jeden Monat darauf hoffen, dass dieser mich nicht entlassen würde. Im Grunde wäre das gar nicht so schlecht gewesen, da ich in die Abiturphase kam und mich wieder auf meine Noten konzentrieren wollte, wären da nicht die 1400€ gewesen, die zurückgezahlt werden mussten. Ich arbeitete weiter, verdiente meine 120€ und vereinbarte mit meiner Sachbearbeiterin beim Amt eine Ratenzahlung von monatlichen 30 €, als sie zu mir meinte, dass ich dann bitte in zwei Jahren erneut anrufen soll, da eine Ratenzahlungsvereinbarung alle zwei Jahre verlängert werden müsse, wusste ich nicht wirklich, ob ich lachen oder weinen soll. Ich rechnete nach und freute mich auf die kommenden vier Jahre. Den Führerschein, welchen ich zu der Zeit begonnen hatte, sprich 2016, habe ich bis heute deswegen immer noch nicht in der Hand.
Nach dem Abitur wollten nicht nur meine Eltern wissen, was ich denn nun mit meiner ganzen freien Zeit anfangen will, sondern auch eine wissbegierige Sachbearbeiterin. Es war dieselbe, mit der ich die Ratenzahlung vereinbart hatte. In dieser Phase bekam ich nicht nur wöchentlich Briefe von ihr, angerufen wurde ich auch noch – fast wie in einer festen Beziehung, nur dass das Interesse leider nicht beiderseits war.
Von mir wurde verlangt, Auskunft darüber zu geben, was ich denn nun konkret vorhabe. Ich wurde zu etlichen Treffen eingeladen, zum ersten bin ich höflichkeitshalber hingegangen. Die vermeintliche „Berufsberatung“ glich eher einem Kreuzverhör. Auf die folgenden Ein- oder nennen wir sie lieber Vorladungen habe ich nicht mehr reagiert.
Ich habe ich mich für ein FSJ im politischen Leben entschlossen. Verdienen sollte ich knapp 500 € für 39 Stunden die Woche, von denen ich gnädigerweise die Hälfte behalten durfte. Die andere musste ich abgeben, da es sonst zum selben Problem wie bei meinem alten Job gekommen wäre.
Faire Chance auf Bildung, für Alle – das seh’ ich nicht wirklich so.
Gegen Ende des Freiwilligendienstes hatte sich herausgestellt, dass ich wegen des Studiums umziehen muss. Bei der Vorstellung an das Studium und eine neue Stadt sollte eigentlich Freude aufkommen, nicht bei mir. Ich versuchte mir stattdessen einen Plan auszuhecken, wie ich mir den Umzug in eine 350 km weit entfernte Stadt, eine Wohnung oder gar die Semestergebühren in Höhe von 350 € finanzieren soll, wenn ich nie wirklich die Möglichkeit hatte, ordentlich Geld anzusparen. Natürlich hat man Anspruch auf BAföG, aber erst leider viel zu spät, so dass man diese Unterstützung gar nicht erst einplanen braucht. Faire Chance auf Bildung, für Alle – das seh’ ich nicht wirklich so.
Wenn ich zurück darauf blicke, wie es damals, vor ein paar Monaten, bei mir zuhause war, dann wundert es mich, dass ich es überhaupt zum Studieren von Bonn nach Bremen geschafft habe. Aber ich hatte wahnsinnig viel Glück, dass meine Eltern wieder berufstätig geworden sind und mir wenigstens zu dem Zeitpunkt unter die Arme greifen konnten.
Kommen wir zum Resümee. Oftmals haben die Hartz-IV-Regelungen negative Auswirkungen auf das Leben und die Psyche der Kinder und Jugendlichen. Jene, die sich versuchen, aus der Arbeitslosigkeit der Eltern zu befreien, werden daran gehindert. Auf der anderen Seite stellt sich natürlich die Frage, welches Bild an die Betroffenen, für die es hart genug ist, unter prekären Verhältnissen zu leben und deshalb versuchen, sich selbst aus der Situation zu befreien, übermittelt wird? Was können diese für die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern?
Sind Kinder es aus Bedarfsgemeinschaften nicht wert, soll ihnen der Aufstieg aus ihrer prekären Situation nicht ermöglicht werden?
Eine Erneuerung des Hartz-IV-Konzepts zum Wohle der Jüngeren ist deswegen längst überfällig! Wir brauchen dringend eine Grundsicherung, die Kinder nicht aufgrund der Arbeitslosigkeit der Eltern benachteiligt. Lasst uns Kinderarmut ein Ende setzen, denn wir wollen eine Gesellschaft in welcher keine*r in seinen Freiheiten und Möglichkeiten eingeschränkt wird!